Tempi Passati „Anomie“ VÖ: Juni 2022

10 Jahre Tempi Passati. Die Zeit verging wie im Flug und sind Geschichte. Mit vier zauberhaften Alben hat der Leipziger Vierer mit Steuermann Raik Hessel immer wieder für eindrucksvolle Wegmarken gesorgt, die beiden jüngsten waren für den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert.
Nun steht Opus Nō. 5 an. Zunächst fällt das Cover auf: Bisher gab es eine durchgehende Gestaltung mit einem an die Leipziger Schule erinnerndem Bild im Zentrum. „Anomie“ hat eine ebenfalls sehr ansprechende, jedoch grafisch komplett andere Lösung (Coverbild Rainer Justen), das bisherige Corporate Design ist offenbar auch passé.
Wenigstens wird den ersten Klängen schnell und beruhigend hörbar, dass sie ihre musikalischen Vorstellungen nicht umgekrempelt haben. Weltoffene, stilistische Vielfalt prägt nach wie vor ihren Klang. Von Raik Hessel stammen die Musik, die Texte und neben den Gitarren noch eine Anzahl weiterer Instrumente. Die Bandmitglieder, alle Meister ihres Faches, und darüber hinaus eine Schar illustrer Gäste steuern viele eigene Inspirationen bei. Wie üblich ist das Ganze ein furchtlos-furioser Parforceritt durch Zeiten und Regionen; es geht munter von Chanson bis Blue Grass, von Folk bis Rock´n Roll.
Des Meisters Gitarre steht natürlich im Zentrum. Soundtragend auf diesem Album sind ebenso die Keyboards, die klingen wie damals, als die Dinger noch „Elektro-Orgel“ hießen. Schön, dass wir auch auf die gewohnte Mariachi-Trompete nicht verzichten müssen. („Wer hat, der kann“)
In Fortsetzung schöner Tempi-Traditionen werden immer wieder Instrumentals zwischen die Gesangsstücke gestreut: Gelegenheit zu handwerklichen Kabinettstückchen. Das reicht vom romantischen Gitarrentango („Tatjana“) über klassische Americana („solo un poco“) bis zum „Rasenden Roland“, der hier flott durch die weite Prärie dampft: Diatonisches Akkordeon trifft Steelguitar, Polka geht auch als Line Dance. Eine andere Nummer heißt einfach nur „Drum & Git“ – wir wollen mal nicht spoilern, wer sich hier ein spannendes Duell liefert…
Zentral für das Gesamterlebnis Tempi Passati sind Hessels unaufgeregter Gesang und die dazugehörigen Texte. Er erzählt seine Geschichten ohne sprachliches Gepose, aber mit feiner Beobachtung in schönen Metaphern: Klug, aber nicht belehrend, engagiert, aber nie ideologisch. Unüberhörbarem ist sein Hang zur (Selbst)Ironie, aber er läuft nie in Gefahr, in Zynismus abzudriften.
Den Zeitgenossen (gern auch speziell der Zeitgenossin) wird zielgenau hinter die Maske geschaut: „Wenn jeder sich der Nächste ist, bin das in meinem Fall ganz klar ich“ („Erste Person Singular“).
An Ende wird´s dann doch bedrückend: „Generation Degeneration“ beginnt mit der Lässigkeit von Johnny Cash, doch landet inhaltlich schnell beim Kern. Diese Gattung behandelt den Planeten, auf dem sie lebt, wie einen Ballon, den man beliebig immer weiter aufblasen kann. Wir haben ein gewaltiges Problem, konstatiert Hessel: Und das sind wir selbst.

Spätestens hier fällt der Albumtitel wieder ein, dessen Einordung bei den meisten Interessierten wohl den Link zum Wiki erfordert: „Anomie“ bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung.
Bedarf es noch mehr Erklärung?

Gottlob entlässt uns Hessel nicht schreckstarr mit einer dystopischen Vision aus diesem Album, obwohl der Titel des abschließenden Stücks dies zunächst befürchten lässt.
Es heißt „La Fine“. „Das Ende“ also. Doch Hessel denkt einmal mehr augenzwinkernd um die Ecke und erörtert lediglich in lockerem Ton den Fakt, dass dies eben der letzte Song der Platte sei, woraus – in diesem Fall zwar höchst bedauerlich, doch nichtsdestoweniger zwingend – folge, dass danach keiner mehr kommen würde: Der Letzte macht den Player aus.
Doch nein, hören wir uns diese schöne Scheibe einfach noch einmal an. Mindestens! Dieses ungemein witzige, kluge, facettenreiche und hochmusikantische Album hat es unbedingt verdient.